Karte 1618

Preußen und seine Mythen

Als der französisch-schweizerische Architekt und Städteplaner Le Corbusier 1956 beim Bau seines berühmten Wohnhauses „Unité dŽhabitation“ an der Charlottenburger Reichssportfeldstraße Ärger mit den Berliner Bauaufsichtsbehörden bekommt, die ihm insbesondere die angeblich zu niedrigen Deckenhöhen der Wohnungen ausreden wollen, fällt dem Stararchitekten in seiner Verärgerung vor allem eine Begründung für die deutsche Borniertheit beim Umgang mit innovativer Architektur ein: die niedrigen Decken dürfen deshalb nicht sein, weil die Deutschen immer noch mit ihren preußischen Pickelhauben ins Bett gehen. Franzosen kommen aber auch andere, positivere Verbindungen in den Kopf, wenn sie an Preußen denken. Die geläufige sprichwörtliche Redewendung: „Travailler pour le Roi de Prusse“ bedeutet übertragen nichts anderes, als eine Sache idealistisch um ihrer selbst willen zu unternehmen, ohne in erster Linie auf die zu erwartende Belohnung zu sehen. Und wenn in deutschen Schullesebüchern die historische Bedeutung gerade des preußischen Rechtsstaates herausgestrichen werden soll, wird dies den Schülern über Generationen zuallererst mit der berühmten Geschichte von der Mühle in Sanssouci verklärt.

Friedrich II von Preußen

Die soll angeblich so laut geklappert haben, dass sich der berühmte Bewohner des Sommerschlosses, der preußische König Friedrich II., der Große, beim Müller beschwerte und den Abriss der Mühle forderte. Der Müller ist von der königlichen Einschüchterung ganz und gar nicht beeindruckt und antwortet der preußischen Majestät stolz und selbstbewusst::

„Sire, es gibt noch Richter in Berlin,“

(gemeint ist das Kammergericht). Gerade an dieser berühmten Legende der Mühle beim Schloss Sanssouci in Potsdam kann verdeutlicht werden, was ein historischer Mythos darstellt, welche Funktion er hat und wie es mit seiner Authentizität bestellt ist. Zunächst ist festzuhalten, dass der historische Sachverhalt mit der Mühle in Sanssouci ein ganz anderer ist, als es die Legende aussagt. Die bereits 1739, also ein Jahr vor Friedrichs Machtantritt und fünf Jahre vor dem Bau des Schlosses Sanssouci auf dem Windmühlenberg im Westen der Residenz Potsdam errichtete Mühle stört Friedrich II. überhaupt nicht. Ganz im Gegenteil fördert der preußische König ihre Existenz, er lässt sie mehrfach reparieren und sogar erhöhen und verbietet auch ihre Versetzung, weil er ihr Geklapper durchaus nicht missen mochte und der Meinung ist, dass sie dem Schloss „eine Zierde mache“. Schließlich lässt der Preußenkönig seit 1744 sein weit weg von der lärmigen Großstadt Berlin und außerhalb der Kleinstadt und Residenz Potsdam gelegenes Sommerschloss als ländliche Idylle errichten, in die er sich im Sommer gerne zurückzieht und zu der deshalb eine Mühle sehr gut passt.

Auf der anderen Seite enthält die Legende aber durchaus einen wahren Kern, der auf einen wichtigen Mythos preußischer Staatlichkeit verweist. Mit der Bemerkung des Müllers, dass es in Berlin noch ein Kammergericht gebe, das ihm schon zu seinem Recht verhelfen werde, verweist die Geschichte auf das hohe Maß an Rechtsstaatlichkeit, das sich gerade im Preußen Friedrichs des Großen in vorbildlicher Weise herausgebildet hat. Durch verschiedene Maßnahmen der Justizreform erreicht Preußen bereits im 18. Jahrhundert eine rechtsstaatliche Verfassung, die es auch dem einfachen Bürger ermöglicht, sich vor Gericht gegen Willkürmaßnahmen des absolutistischen Staates zu wehren. Ein anderer Fall eines Müllers, nämlich der ebenso berühmte des Müllers Arnold aus der Neumark, dokumentiert diesen modernen Entwicklungsstand der preußischen Rechtspflege. Dort allerdings vergaloppiert sich der preußische König, als er einem von den örtlichen Adligen drangsalierten Müller gegen vermeintliche Willkürurteile der beteiligten Gerichte schützen will und die Richter auf die Festung Spandau schickt. Die Richter allerdings und auch die Mitglieder der königlichen Regierung zeigen ein erhebliches Maß an Unabhängigkeit und Selbstbewusstsein in ihrer Funktion als judikative Kraft des Staates, die so gar nicht zum angeblichen Kadavergehorsam der preußischen Untertanen passt.

Die Legende des Müllers von Sanssouci zeigt deutlich, was ein Mythos eigentlich darstellt und welche Funktion er erfüllt. Die Geschichte hält als Legende einer wissenschaftlichen Prüfung nicht stand und stimmt in ihren historischen Fakten nicht. Dennoch enthält sie einen Kern, der auf den wichtigen Mythos der preußischen Rechtsstaatlichkeit verweist. Insofern steht dieser Mythos für ein Phänomen preußischer Geschichtlichkeit, das im Bewusstsein der Menschen zu verschiedenen Zeiten vorhanden ist, von diesen über Generationen hinweg weitergetragen wird und scheinbar eine Notwendigkeit ihrer Selbstvergewisserung darstellt. Was also ist generell ein Mythos, welche Funktion weist er auf und wieso stellt gerade Preußen insgesamt einen in der Gegenwart der Bundesrepublik Deutschland wichtigen historischen Mythos dar?

Offenbar gehört die Mythologisierung von Vergangenheit und Gegenwart zu einem der Grundbedürfnisse des Menschen. Dies hat nicht nur die wissenschaftliche Erforschung von Mythen ergeben, die sich insbesondere mit den Ursprungsmythen von Völkern und Kulturen (z. B. Romulus) beschäftigt. Dabei ist weniger interessant, ob diese Figuren des Mythos einer historischen Überprüfung ihrer idealisierten Stilisierungen standhalten, sondern wie passend der formulierte Mythos den Erwartungen bzw. Bedürfnissen des Publikums dient.
Geeignete Objekte für Mythen sind dabei immer insbesondere interessante, die Menschen bewegende Ereignisse oder Phänomene, auf die Sinn- und Gemeinschaftstiftendes projiziert werden kann.

Berliner Zivilgerichtssitzung im 18. Jahrhundert

Im Falle des Mythos Preußen handelt es sich dabei beispielsweise um die Themen starker Staat, Militär, Durchsetzungsfähigkeit oder auch als negative Erscheinungsformen preußischen Geistes der furchtbare Militarismus oder das pauschale Herhalten für die Begründung der negativ verlaufenen deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Ob dabei Prozesse einer „gesetzmäßigen Wiederkehr des Mythos“ in Gesellschaften mit „hohen Veränderungsgeschwindigkeiten“ zum Tragen kommen, wie dies der Philosoph und Mythenforscher Hans Blumenberg annimmt, mag dahingestellt bleiben. Es scheint jedenfalls ein spirituelles Bedürfnis des Menschen zu sein, gerade in dieser durchorganisierten, rationalisierten und aufgeklärten Welt mit Hilfe von Mythen Gegenwelten und Projektionsflächen aufzubauen und zu pflegen. Mythen können deshalb durchaus als Proteste gegen die allgemeine Aufklärung und Rationalisierung oder auch gewisse Defizite der Rationalisierung darstellen. Dabei dienen Mythen immer auch der Selbstfindung, -vergewisserung und der Sinn- und Identitätsstiftung von politischen Gemeinwesen, egal ob es sich um die Antike (Theseus und Romulus) oder die Neuzeit europäischer Staaten handelt (z. B. Arminius und Barbarossa in Deutschland, Napoleon und Jeanne dŽArc in Frankreich, Garibaldi in Italien).

Die wissenschaftliche Forschung versteht dann unter Mythen jene sozialen Konstruktionen über die historische Wirklichkeit, die die Traditionen einer sozialen Gemeinschaft in erzählender Weise verdichten und vereinfachen und auf diese Weise soziale Konventionen (als Normen des sozialen wie intellektuellen Umgangs) schaffen, die nicht mehr bewiesen und begründet werden müssen. Sie neigen in der Regel zur Vereinfachung und Verkürzung, aber auch zur Verherrlichung und Überhöhung und schaffen ein eigenes Selbstverständnis. Freilich halten sie in historischer Perspektive zumeist einer wissenschaftlichen Überprüfung nicht stand bzw. stellen jeweils eine spezifische Zuspitzung nach der einen (positiven) oder anderen (negativen) Seite dar. So gibt es sowohl einen positiven Mythos Preußen, in dem die herausragenden Eigenschaften dieses Staates wie seine Rechtsstaatlichkeit oder die Unbestechlichkeit seiner Beamten hervorgehoben werden als auch den negativen, bei dem Untugenden wie der verdammungswürdige Militarismus oder die politische Kultur des Kadavergehorsams in der Vordergrund gestellt werden.

Ein Mythos bietet dabei in der zumeist vorhandenen positiven Formulierung immer auch eine Folie für eine vorgestellte bessere Welt der Vergangenheit als Gegensatz zur tristen und verbesserungsfähig gehaltenen Gegenwart. Gerade diese Eigenschaft ist es, die Mythen so interessant und attraktiv macht. Dennoch sind Mythen keine willkürliche Legenden, sondern enthalten durchaus einen wahren Kern. Dabei geht es weniger um die genaue Rekonstruktion des Ereignisses, sondern mehr um eine allgemeine Sinnhaftigkeit des Vorgangs (vgl. die eingangs erwähnte Legende vom Müller von Sanssouci). Der Mythos beinhaltet eher Geschichten als Geschichte, er stellt immer auch eine Simplifikation der Realität dar, d.h. die Komplexität historischer Wirklichkeit wird vereinfacht und reduziert, die Vielfalt politischer Entscheidungsmöglichkeiten und die tatsächlich in Geschichte immer vorhandene Fülle von Optionen wird im Mythos verringert.

Von entscheidender Bedeutung für die Entstehung von Mythen ist die Tatsache, dass sie weniger in den Tiefen der breiten Bevölkerung entstehen, sondern von oben, von Intellektuellen, zumeist Literaten und Schriftstellern, erfunden bzw. popularisiert werden. Diese Intellektuellen nutzen dabei Mythen als geeignete Folien für alternative politische Konzepte, die einer vermeintlich historischen Begründung bedürfen.

Auch bei der Geburt des „Mythos Preußen“ spielen Intellektuelle, insbesondere eine bestimmte Schule von Historikern, eine herausragende Rolle. So sind es die drei Historiker Johann Gustav Droysen (1808-1884), Heinrich von Sybel (1817-1895) sowie Heinrich von Treitschke (1834-1896), die seit den 1850er Jahren die historische Forschung bewusst zu einem Kampfinstrument für die nationale Einigung unter der Führung Preußens machen. Diese drei Vertreter der kleindeutsch-borussischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts verstehen sich als politische Historiker und sind auch als Politiker und politische Publizisten tätig, wodurch sie einen großen bürgerlichen Multiplikatorenkreis erreichen. Ihr Hauptaugenmerk sehen sie darin, Preußens angeblichen „deutschen Beruf“ in der gesamten Geschichte nachzuweisen, womit Droysen schon einmal in der griechischen Antike beginnt und die durch Alexander den Großen erzwungene Einigung der griechischen Kleinstaaten durch Makedonien als zukunftsträchtige Notwendigkeit und Vorbild für die zeitgenössischen Verhältnisse Preußen-Deutschlands um 1833 formuliert. Aus ihrer Sicht stellt die preußisch-deutsche Reichseinigung Höhepunkt und Endziel der deutschen Geschichte dar, Alternativen zu diesem Konzept sehen sie nicht. Diese drei Historiker sowie weitere aus ihrer Schule erreichen es, die gesamte Weltgeschichte „auf siegesdeutsch anzustreichen“, wie der Kulturhistoriker Jacob Burckhardt feststellt. Der liberale Althistoriker Theodor Mommsen (1817-1903) attestiert ihnen, dass sie „für das allerdings recht verschwommene Ideal der Jungfrau Germania ...die ideale Pickelhaube in Kurs gebracht“ hätten. Der gebürtige Rheinländer Heinrich von Sybel, seit 1875 Leiter der Preußischen Staatsarchive, geht sogar so weit, sein Hauptwerk „Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I.“ in ganz enger Zusammenarbeit mit Reichskanzler Bismarck zu verfassen, der das Werk offiziell bei Sybel bestellt und auf den es – trotz des irreführenden Titels – ganz und gar zugeschnitten ist.

Wilhelm II. als Marinekommandant

Auf der Grundlage der Werke dieser preußisch orientierten Geschichtswissenschaft, ihrer Historiker sowie ihrer Schüler entsteht schließlich in der Hurra-Zeit des deutschen Kaiserreiches ein Preußen-Bild, das in verherrlichender und idealisierender Weise den deutschen Hegemonial-Staat des 19. Jahrhundert alternativlos zum Erfüllungsgehilfen des Weltgeistes erhebt und alle positiven Eigenschaften Preußens mythologisiert und auf diese Weise in die deutschen Schulbücher einfließen lässt. Während im Dritten Reich bestimmte Wesenszüge des preußischen Geistes, insbesondere der militärisch-kriegerische, noch stärker verherrlicht und auch ideologisch ausgebeutet werden, vollzieht sich in der historiographischen Betrachtung Preußens nach dem Zweiten Weltkrieg durchaus in beiden Staaten ein Paradigmenwechsel. Nach der Katastrophe von nationalsozialistischer Diktatur und Zweitem Weltkrieg wird Preußen in Ost wie West wesentlich kritischer gesehen. Friedrich Meinecke (1862-1954) betont aus "bürgerlicher" Sicht die negativen Seiten der preußischen Hegemonie der deutschen Geschichte. Die SED-dominierte geschichtswissenschaftliche Forschung der DDR verdammt alle preußischen Erscheinungen zunächst in Bausch und Bogen und sorgt durch barbarische Sprengaktionen auch dafür, dass die Relikte preußischer Herrschaftsarchitektur wie beispielsweise die beiden Stadtschlösser in Potsdam und Berlin dem Erdboden gleichgemacht werden. Auf das Hosianna von Kaiserreich bis Drittem Reich in bezug auf Preußen folgt jetzt das allgemeine „Kreuziget es“. Erst mit einem gewissen Abstand zu 1945 beginnt in den späten 1970er Jahren wiederum erstaunlicherweise sowohl in Ost- wie auch in Westdeutschland eine objektiv-differenzierendere Sicht auf die Hohenzollernmonarchie. Durch die Arbeiten von Ingrid Mittenzwei über Friedrich II., der als Reiterstandbild von Christian Daniel Rauch seit 1980 wieder Unter den Linden reiten darf und Ernst Engelberg über Bismarck wird Preußen plötzlich zumindest in Teilen in das ausgewählt positive Erbe des offiziellen SED-Geschichtsbild eingereiht. Im Westen leitet insbesondere die große Preußen-Ausstellung in Berlin 1981 eine neue Welle von öffentlichem Preußen-Interesse ein, die insgesamt zu ausgewogeneren Urteilen über diesen von vielen Mythen umkränzten Parvenu unter den europäischen Großmächten des 18. und 19. Jahrhunderts gelangt.

Weshalb wird gerade Preußen zu einem der herausragendsten Mythen der deutschen Geschichte? Woraus besteht bei Lichte besehen dieser Mythos Preußen, was macht ihn aus und wie kann er bei Vermeidung einer allzu einseitigen Beleuchtung angemessen gewürdigt werden?

Die allgemeine geschichtliche Entwicklung Preußens als Staat ist der Hauptgrund, weshalb sich um diesen Staat so viele Mythen gebildet haben. Schon der Ursprung des Namens „Preußen“ als derjenige eines heidnischen Stammes außerhalb des deutschen Reiches, der Pruzzen, die dezimiert und missioniert werden, deren Namen die Eroberer aber übernehmen, ist unheimlich-spannend genug. Dann handelt es sich bei Brandenburg-Preußen um einen Staat, der von einer Lachnummer am äußersten Rand des Heiligen Römischen Reiches in einem einzigartig steilen Aufstieg zu einer zunächst deutschen, dann europäischen Großmacht heranwächst, aber gerade mal ein Jahrhundert nach seinem Höhepunkt in der Mitte des 18. Jahrhundert schon wieder dahinsiecht und ein weiteres Jahrhundert danach als Staat überhaupt von den Landkarten verschwunden ist. Wo gibt es eine solche Staatsgeschichte noch einmal, abgesehen von den nun wirklich mythischen Gebilden wie Vineta oder Atlantis ? Gerade aus dieser parvenuhaften Geschichte der Hohenzollernmonarchie mit dem Hang zu Militarismus und der Anwendung militärischer Mittel erwächst eine besondere Rechtfertigungsnotwendigkeit, die die rückwärtsgewandte Projektion der deutschen Sendung Preußens durch die kleindeutsch-borussische Geschichtsschreibung erklärt und deshalb in besonderem Maße mythenträchtig ist. Zum dritten stellt der preußische Kunststaat in seiner Geschichte und dem herausgebildeten besonderen preußischen Geist ein dergestalt eigentümliches, von zahlreichen inneren Spannungen und Gegensätzlichkeiten geprägtes Gebilde dar, das die Entstehung von positiven wie negativen Einzelmythen geradezu herausfordert.

Diese Einzelbestandteile des Mythos Preußens bestehen, nach positiven und negativen unterschieden, im wesentlichen aus folgenden Komponenten:

Der Mythos von Preußen als Hort der Toleranz.
Da Brandenburg-Preußen im 17. Jahrhundert ein Staat ist, der aus ganz ärmlichen Verhältnissen kommt und keine eigenen großartigen Ressourcen besitzt, ist den Herrschern aus dem Hause Hohenzollern seit dem Großen Kurfürsten klar gewesen, dass dieser allgemeine Mangel nur dadurch auszugleichen ist, indem talentierte und vermögende Bevölkerungsgruppen in großem Maßstab in das ärmliche Land am Rande des Reiches geholt werden.

Otto Eduard Leopold von Bismarck

Dies geschieht dann seit dem Edikt von Potsdam 1685 mit den religiösen und ethnischen Minderheiten der Hugenotten, jüdischen Bevölkerungsgruppen, den Salzburger Emigranten, Wallonen, aber auch bestimmten Gruppen von Pfälzern, Württembergern und Schweizern bis weit in das 18. Jahrhundert hinein. Neben der Grundlage eines konfessionellen Toleranzprinzips der Hohenzollern, die sich dabei wesentlich am holländischen Vorbild orientiert, sind es aber vornehmlich wirtschaftliche Gründe, die diese dann allerdings auch im europäischen Maßstab ziemlich einmalige Toleranz ermöglichen, die einen wesentlichen Anteil am Aufstieg Preußens zur Großmacht ausmacht. Unter Friedrich II. wächst sich die tolerante Haltung des Staates zum allgemeinen Gesetz aus, das von einer wohltuenden Pragmatik gekennzeichnet ist, auf die zurückzublicken sich für einige Parteiprogrammatiker der Gegenwart lohnen würde.
Auf die Anfrage des Generaldirektoriums, ob ein Katholik im protestantisch- calvinistischen Preußen das Bürgerrecht erwerben dürfe, antwortet Friedrich II.:

„Alle Religionen sind gleich und gut, wenn nur die Leute, so sie bekennen, ehrliche Leute sind. Und wenn Türken und Heiden kämen und wollten das Land peuplieren, so wollen wir ihnen Moscheen und Kirchen bauen.“

Allerdings findet die preußische Toleranz jenseits des wirtschaftlichen Nutzens für den Staat bei der jüdischen Minderheit ihre Grenzen, die auch unter Friedrich – wie allerdings überall in Deutschland zu dieser Zeit – keine volle Gleichberechtigung erhält, sondern im Gegenteil weiterhin diskriminierenden Sonderrechten unterworfen ist. Diese insgesamt dennoch sicherlich einzigartige Haltung eines Staates, sich zugunsten des allgemeinen Staatswohls als melting-pot für alle möglichen Ethnien und Völker zu verstehen, wenn sie nur zum guten allgemeinen Wohl beitragen wollen, lässt Preußen für viele verfolgte Bevölkerungsgruppen zum gelobten Einwanderungsland werden.

Die Hugenotten treffen in Berlin ein

Der Mythos der preußischen Rechtsstaatlichkeit.
Die Besonderheit des sehr früh ausgebildeten Rechtsstaates in Preußen gehört durch die Ausschmückung mit zahlreichen Legenden (siehe Einleitung zu diesem Artikel) zu den verbreitetsten, aber auch der historischen Realität am nächsten kommenden Eigenschaften dieses Staates. Auf diesem Feld kann Preußen durchaus bis heute als staatliches Vorbild dienen. Schon im späten 17. Jahrhundert beginnt in der Zeit der Frühaufklärung die Herausbildung eines eigenen preußischen Naturrechts unter den Hallenser Rechtsphilosophen Christian Thomasius (1655-1728) und Christian Wolff (1679-1754). Diese besondere Form der Rechtsstaatlichkeit auf der Grundlage der praktischen Vernunft wird in den nächsten Jahrzehnten Generationen von preußischen Beamten prägen, die diese Lehre in der staatlichen Rechts- und Verwaltungspraxis umsetzen. Schon unter Friedrich II. werden die allgemeinen Prinzipien des Rechtsstaates wie zum Beispiel die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz durch Reformen des Justizsystems weiter ausgebaut, bevor sie im Allgemeinen Landrecht des preußischen Staates von 1794 kodifiziert werden. Aber selbst in den finstersten Zeiten der Reaktion oder auch im sonst so verschrieenen Wilhelminischen Preußen erhält sich dieser positive Zug Preußens. Deutlich wird dies etwa in der vorbildlichen Verwaltungsgerichtsbarkeit Preußens im Kaiserreich oder auch in dem Fall eines Domänenpächters aus Cadinen nördlich von Elbing in Westpreußen, der 1912/13 durch beleidigende Bemerkungen des preußischen Königs Wilhelm II. vorzeitig aus seinem Pachtverhältnis entlassen werden soll, sich dagegen aber über drei Instanzen der funktionierenden und unabhängigen Gerichtsbarkeit Preußens erfolgreich wehrt. Der Kaiser wird verurteilt und bezahlt dem Pächter schließlich ein hohes Schmerzensgeld.

Christian Thomasius

Die Fortwirkung des Allgemeinen Landrechts Preußens bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts oder der preußischen Verwaltungsgerichtsbarkeit bis weit in die Weimarer Republik hinein zeigt, wie maßstabsetzend der preußische Staat auf diesem Gebiet auch in den folgenden Generationen wirkt.

Der Mythos der Unbestechlichkeit der preußischen Beamten.
Die ganz besondere Hochschätzung des preußischen Beamtentums hängt sicherlich mit der ausgeprägten Staatsanbetung in Deutschland zusammen, hat aber durchaus auch ihren realen historischen Hintergrund. Auf der Grundlage der lutherischen Berufslehre, der Halleschen Frühaufklärung und der Kantschen Pflichtethik, soweit sie in diesem Bereich überhaupt rezipiert wird, erziehen die preußischen Könige im Verlauf des 18. Jahrhunderts unter Friedrich Wilhelm I. teilweise mit Prügel, unter seinem Sohn nur noch mit Hilfe von bissigen Randbemerkungen, ein Berufsbeamtentum heran, das bald bewundert wird und sicherlich bis heute zu den positiven Markenzeichen der Hohenzollernmonarchie gehört. Dies führt immerhin soweit, dass das hochgebildete obere Beamtentum Preußens gerade in der Reformzeit des 19. Jahrhunderts sogar fortschrittlicher eingestellt ist als der regierende Monarch und weite Teile des Bürgertums. Wo gibt es eine solche Konstellation, so kurzzeitig sie auch gewesen sein mag, sonst noch in der Weltgeschichte?

Die preußischen Tugenden.
Pflichtbewusstsein, Disziplin, Ordnung, Sauberkeit, Pünktlichkeit, Sparsamkeit, Kameradschaft, Durchsetzungsfähigkeit, Schnörkellosigkeit und Knappheit im Ausdruck, Toleranz. Dies dürften wohl die wesentlichen Eigenschaften darstellen, die landläufig als preußische und später deutsche Tugenden begriffen werden. Sie erhalten in Preußen ihre Prägekraft durch die ethische Verankerung des Herrscherhauses im Calvinismus mit den entsprechenden Handlungsanweisungen der Leistungsorientierung, der Sparsamkeit und innerweltlichen Askese sowie in der erkannten Notwendigkeit, dass die nicht vorhandenen natürlichen und sonstigen Ressourcen durch solche im ethisch-pflichtgemäßen und gemeinnützigen Verhalten der Staatsbürger, insbesondere der Staatsdiener, ersetzt werden muss, wenn Preußen erfolgreich sein wollte.

Friedrich Wilhelm I. von Preußen

Dieses Programm wird bis Wilhelm II. im wesentlichen auch von den preußischen Herrschern in ihrer Herrschaftspraxis verwirklicht wird und erhält dergestalt eine gewisse Vorbildfunktion. Allerdings handelt es sich bei diesem frommen preußischen Tugendkatalog nicht um absolute Werte, sondern sie entfalten ihre Wirksamkeit gerade erst im gesellschaftlichen Umfeld. Dass die preußischen Tugenden dann etwa bei der Massenausweisung polnischer Untertanen des preußischen Staates in den 1880er Jahren oder gar bei der pünktlichen und skrupellosen Abfertigung der Deportationszüge nach Auschwitz auch noch funktionieren, zeigt, wie fragwürdig ihre Vergötterung um ihrer selbst willen oder die Verabsolutierung einzelner Tugenden ist. Es handelt sich dabei um Sekundärtugenden, die sich leicht für alle möglichen, dann auch möglicherweise verbrecherischen Primärzwecke, missbrauchen lassen. Insgesamt führt dieses mit einem Staatsgebilde verbundene Tugendregiment aber auch zu dem weit verbreiteten Eindruck von einer gewissen Rationalität und Kälte Preußens, mit der beispielsweise die den Freuden des Lebens zugewandteren rheinländischen Staatsbürger so ihre liebe Not haben.

Der Mythos der besonderen Geistigkeit des preußischen Staates.
Die ausgeprägten negativen Seiten Preußens, insbesondere die Betonung des Militärischen, haben zu dem Bild beigetragen, Preußen sei eine ausgesprochene Wüste kultureller Barbarei gewesen. Wenn diese Einschätzung für die Streusandbüchse des Heiligen Römischen Reiches bis ins 17. Jahrhundert und während der drakonischen Nützlichkeitsmaßnahmen des Soldatenkönigs auch gelten mag, so könnte sie für die übrige Zeit des Existenz Preußens falscher nicht sein. Ganz im Gegenteil, der Mangel an natürlichen Bodenschätzen und Machtmittel sowie der Wille, aus dem Staat etwas zu machen, führen gerade zu einer besonders ausgeprägten Verbindung von Staat, Herrscher und Geistigkeit. Während nämlich auf vielen Thronen im Deutschen Reich oder auch Europas gekrönte Hohlköpfe sitzen, regiert in Preußen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts mit Friedrich II. ein ausgesprochener homme de lettres, Philosoph und Musiker, der einen intellektuellen Zirkel gleichberechtigter Denker um sich schart, der für einen Hof dieser Zeit durchaus einmalig ist.

Diese Intellektualität hindert ihn freilich nicht, Angriffskriege zu führen und die deutsche Literatur eines Gotthold Ephraim Lessing oder Johann Wolfgang Goethe mit überheblicher Missachtung zu strafen. Aber auch die Synthese von Macht und Geist in der Form eines Ministers Wilhelm von Humboldt (1767-1835), der die preußischen Schul- und Universitätsreform zum weltweit beachteten Modell ausbaut sowie insgesamt die besonders innovative und qualitätsvolle Kultur- und Wissenschaftsförderung Preußens zeigen eher das genaue Gegenteil eines barbarischen Kriegerstaates (vgl. Beitrag Kulturgeschichte Preußens). In Preußen werden Mars und Musen nicht als Gegensatz gesehen. Dagegen stehen die negativen Mythen Preußens:

Der Mythos des preußischen Militarismus.
Ganz fraglos trägt der Hang Preußens zum Militärischen ganz wesentlich dazu bei, dass der Staat insgesamt in der Welt bis heute eher negative Assoziationen weckt. Preußen verdankt seinen Aufstieg zur europäischen Großmacht im 18. und 19. Jahrhundert eindeutig seiner Armee und den gewonnenen Kriegen, die die Hohenzollernmonarchie in Deutschland und Europa nicht eben beliebt machen. Noch schlimmer wiegt allerdings, dass das Militärische überhaupt gegenüber der Zivilgesellschaft den höheren Rang zugewiesen bekommt, dass in Preußen der Unteroffizier weit mehr zählt als jeder Professor. Die Dominanz des Militärischen überhaupt und deren Vergötterung besonders im Kaiserreich gehören zusammen mit der nicht ausgebildeten Parlamentarisierung und Demokratisierung Preußens zum schlimmsten und verhängnisvollsten Erbe, das der Staat für die deutsche Geschichte hinterlässt. Allerdings dient die Keule Militarismus im Zusammenhang mit Preußen auch als Totschlagargument der eingefleischten Antiborussen. Zur Kenntnis genommen werden sollte eben auch, dass Preußen zu Beginn der Regierungszeit des Soldatenkönigs Friedrich Wilhelm I. einen Anteil des Militärs an der Gesamtbevölkerung von 2,4% aufweist, während beispielsweise dieser Anteil in der militärischen Großmacht Schweden zu Beginn des 17. Jahrhunderts bei mehr als dem doppelten Wert liegt. Der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. verdoppelt zwar die preußische Armee, doch er führt nicht einen Krieg im Gegensatz zu den anderen Mächten Europas in dieser Zeit. Auch Friedrich Wilhelm IV. ist in dieser Hinsicht eher ein skrupulöser Monarch, so dass die Times 1860 über Preußen schon spotten kann, dass der Staat sich lieber auf Konferenzen vertreten lasse als auf den europäischen Kriegsschaupläten aufzutreten.

Der Mythos vom Kunststaat Preußen.
Das im Laufe der Jahrhundert zusammengeerbte und militärisch eroberte Staatsgebiet, nur zusammengehalten durch das Herrscherhaus, die dadurch zusammengewürfelte, wenig autochthone Staatsbevölkerung, die Bereitschaft zur Aufnahme von Flüchtlingen aus aller Herren Länder, die durchrationalisierte, auf ethischen Grundsätzen aufgebaute Staatsverwaltung mit unbestechlichen und pflichtergebenen Staatsbeamten lassen den Mythos von einem Kunststaat oder besser künstlichen Staat entstehen. Dies wird teils bewundernd geäußert, teils aber auch ablehnend, weil zu parvenuhaft entwickelt und trägt vielleicht dazu bei, dass Preußen bei der Auflösung 1947 und im Grunde bis heute niemand wirklich hinterherweint. Das wäre im Falle Bayerns oder Österreichs so undenkbar.

Der Mythos von Preußens Untertanengeist und Demokratiefeindlichkeit.
An der Stelle, an der die preußischen Tugenden zu Untugenden werden, also ihre Mitte verlieren und zu Extremitäten neigen, tragen sie zu zahlreichen weiteren Negativ-Mythen Preußens bei. So ist die Grenze bei den unbestechlichen und pflichtbesessenen Staatsbeamten Preußens zu dienstfertigem Untertanengeist in bestimmten Situationen schnell überschritten. Zusammen mit der gerade im Vergleich zu den liberalen Tendenzen Süddeutschlands nicht ausgebildeten freiheitlichen politischen Kultur und der im Vergleich zu Westeuropa zurückgebliebenen Demokratisierung und Parlamentarisierung trägt dieser negative preußische Mythos wesentlich dazu bei, dass die Hohenzollernmonarchie eben nicht unbefangen und skrupellos in Gänze wieder zu einem staatlichen Gebilde mit Vorbildfunktion für die Gegenwart erklärt werden kann (vgl. Beitrag Repression und Fortschritt).

Es ist deutlich geworden, dass der Gesamtmythos Preußen aus vielen Teilmythen besteht, die teils positive, teils negative Assoziationen hervorrufen und je nach persönlicher Einschätzung als sozusagen privater Mythos von Preußen aufgerufen werden. Dagegen ist aus psychosozialer Sicht gar nichts einzuwenden, denn Mythen dienen dazu, komplizierte Vorgänge und Zusammenhänge zu vereinfachen und so überhaupt den Umgang mit ihren schwierigen Themen zu ermöglichen. Allerdings stellt Preußen ein solches kompliziertes Phänomen dar, das unter der Prämisse einer historischen Objektivität mit allen seinen positiven wie negativen Seiten darzustellen und als solches wahrzunehmen ist. Dabei darf der Hohenzollernstaat weder in seiner nur negativ-einseitigen Zuspitzung als Hort der Reaktion, Kadavergehorsam und Militarismus beschrieben noch schon wieder zum Vorbildstaat und Lichtwesen in der deutschen Geschichte idealisiert werden. Wenn der Kultursoziologe und Schriftsteller Nicolas Sombart jüngst Preußen in seinem sonderbaren, explosiven Gemisch aus kreuzritterlichem Pioniergeist, protestantisch-puritanischer Ethik, Kantscher Moralphilosophie und wissenschaftlich-technischer Zweckrationalität als nichts anderes sieht als eine extreme, besonders radikale und militärische Variante jener spezifisch okzidentaler Geisteshaltung, die zu europäischer Weltherrschaft und Weltzivilisation geführt habe, die man heute Globalisierung nennt, dann bedeutet dies schon eine erstaunlich einseitige Gesamtsicht auf das schillernde, janusköpfige Preußen, das dieser Staat von seinen Kinderbeinen an bis zum bitteren Ende immer war.

Gotthold Ephraim Lessing