Karte 1922

Sozialistengesetze

Im Mai 1878 schiesst der 20jährige Gelegenheitsarbeiter Max Hödel in Berlin mit einem Revolver auf Wilhelm I., der Kaiser bleibt unverletzt. Der Attentäter wird zum Tode verurteilt und hingerichtet. Wenige Wochen später schiesst Karl Eduard Nobiling mit einer Schrotflinte, wobei der Kaiser diesmal verletzt wird. Der Angreifer versucht sich selbst zu richten und erliegt später seinen Verletzungen, bevor ihm der Prozess gemacht werden kann. Der Nachweis, dass hinter den Tätern Drahtzieher aus dem linken Spektrum standen, gelingt zwar nicht, doch werden die beiden Vorfälle zum Anlass genommen, am 21. Oktober 1878 ein "Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie", kurz Sozialistengesetz genannt, zu verabschieden, das summarisch alle sozialdemokratischen, sozialistischen und kommunistischen Vereine, Genossenschaften und Verbindungen verbot, denen ebenso summarisch "auf den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebungen" unterstellt wurden. Für das Gesetz stimmten die Konservativen und Nationalliberalen, dagegen Sozialdemokraten, Zentrum und Fortschrittspartei. Ausgenommen von der Regelung war die sozialdemokratische Reichstagsfraktion, ihre parlamentarische Arbeit und die Teilnahme der Partei an Wahlen. Doch konnte die Partei, ihrer Ortsvereine beraubt, ihre Arbeit kaum leisten, zumal auch Versammlungen und Druckschriften verboten waren. Ausserhalb des Reichstages befand sie sich faktisch im Untergrund, wo sie sich massiver polizeilicher Kontrolle ausgesetzt sah. Das Gesetz galt zunächst für zweieinhalb Jahre, wurde jedoch bis 1890 regelmäßig verlängert. Das Ziel, die sozialdemokratische Parteiorganisation zu zerschlagen, wurde jedoch nicht erreicht. Im Gegenteil die Partei zeigte sich nach Ende des Sozialistengesetzes stärker als je zuvor: bis 1890 konnte sie ihren Wähleranteil verdreifachen.